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Mehr Freiheit für die Betriebe – ein wichtiger Schritt zu mehr Flexibilität in der Arbeitszeitgestaltung
Gastbeitrag von Dr. Thomas Piehler, Vizepräsident von NORDMETALL für Hamburg.
Am 21. Juni 2022 ist es NORDMETALL und IG Metall Küste gelungen, die Flächentarifverträge entscheidend zu modernisieren. Den Betrieben werden größere Freiheiten eingeräumt, die Verteilung der Arbeitszeit ihrer Beschäftigten auf betrieblicher Ebene an ihre lokalen Bedürfnisse anzupassen. Sie sind damit nicht mehr im gleichen Maße wie bisher darauf angewiesen, selbst Verhandlungen mit der Gewerkschaft um Ergänzungstarifverträge zu führen. Dies ist ein ermutigendes Zeichen dafür, dass es mit Beharrlichkeit doch gelingen kann, bestehende Tarifstrukturen im Interesse der Betriebe zu verbessern und diese an neue Realitäten anzupassen.
NORDMETALL-Tarifverhandlungsführerin und Personaldirektorin der Unternehmensgruppe Lürssen Lena Ströbele: „Wir haben bei der Entstehung des Modernisierungspakets viel Zeit mit Betriebsräten und Gewerkschaftern investiert, um gemeinsam in Workshops die gegenseitigen Bedürfnisse zu verstehen und zu analysieren sowie ein gemeinsames Zielbild zu entwickeln, was es braucht in den Betrieben für morgen und übermorgen.“
Rechtssicherheit und Flexibilität
Aus Sicht von NORDMETALL möchte ich zwei Punkte hervorheben, die wir umsetzen konnten:
- die größtmögliche Rechtssicherheit für all die bestehenden betrieblichen Systeme zur Flexibilisierung der Arbeitszeit, die heute ein Rückgrat für den Erfolg unserer Unternehmen sind.
- neue erweiterte betriebliche Möglichkeiten, Flexibilisierungskonten unter angemessener Berücksichtigung der Bedürfnisse der Beschäftigten nach Zeitsouveränität und der betrieblichen Notwendigkeit nach hohem Flexibilitätspotenzial zu entwickeln.
Der Manteltarifvertrag lässt im Rahmen der „alten Welt“ weiterhin die ungleichmäßige Verteilung der Arbeitszeit zu. Dies ist sinnvoll und notwendig, um
- die Arbeitszeit effektiv zu nutzen und die Ausfallzeiten zu minimieren,
- Schwankungen in der Auftragslage auszugleichen,
- Kurz- und/oder Mehrarbeit zu vermeiden und
- die Kosten zu optimieren, um Beschäftigung zu sichern.
Dieses Instrument der „ungleichmäßigen Verteilung“ kann auch von den Beschäftigten genutzt werden, um individuelle Freizeitwünsche in Übereinstimmung mit den betrieblichen Erfordernissen realisieren zu können.
Dr. Peter Schlaffke, für den Bereich Recht und Betrieb zuständige stellvertretender Hauptgeschäftsführer von NORDMETALL: „Eine flexible Verteilung der Arbeitszeit bleibt innerhalb eines festgelegten Ausgleichszeitraums mit und ohne Arbeitszeitkonto möglich. Aufgrund einer Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf aus dem Jahre 2016 waren diese Regelungsspielräume in Zweifel gezogen worden. Dies ist nun aber von den Tarifvertragsparteien bestätigt worden. Das ist ein wichtiger Fortschritt für alle Betriebe, die diese Spielräume bislang genutzt haben, aber zwischenzeitlich durch die Rechtsprechung verunsichert wurden.“
Auch die speziellen Regelungen zur Gleitzeit, die schon aus dem alten Manteltarifvertrag bekannt sind, bewegen sich sowohl für die Arbeitgeber- als auch die Beschäftigtenseite weiterhin im engeren Rahmen der „alten Welt“. Hier gibt es feste Kernarbeitszeiten für alle erfassten Beschäftigten sowie Ein- und Ausgleitphasen zu Beginn und Ende des Arbeitstages, die unter Berücksichtigung betrieblicher Belange der Steuerung durch die Beschäftigten unterliegen.
Weitere Anpassungen nötig
Meiner Ansicht nach entspricht die Gleitzeitregelung nach wie vor nicht den betrieblichen Bedürfnissen – zu enger Rahmen, Festhalten an Kernarbeitszeiten. Aber eine intelligente Gestaltung der ungleichmäßigen Verteilung der Arbeitszeit mit Spielräumen zur Steuerung durch Arbeitgeber und Beschäftigte macht dieses Defizit wett. Gewerkschaften und Betriebsräte haben eine Vielzahl zeitgemäßer Regelungen mitentwickelt. In der „neuen Welt“ ergeben sich für die Betriebe noch deutlich mehr Möglichkeiten als bisher, gemeinsam mit dem Betriebsrat ein passendes Arbeitszeitmodell zu entwickeln.
Es geht absolut in die richtige Richtung, dass die Sozialpartner im Norden zunehmend mehr Spielräume für betriebsindividuelle Gestaltungen eröffnen.
Neues, flexibles „Optionsmodell“
Die neuen Flexibilitätskonten, die man im Rahmen eines „Optionsmodells“ nutzen kann, können gleichermaßen der flexiblen Gestaltung der täglichen bzw. wöchentlichen Arbeitszeit und dem Ausgleich betrieblicher Produktions- und Arbeitszeitzyklen dienen.
Um die betrieblichen und individuellen Bedürfnisse nach mehr arbeitszeitlicher Flexibilität miteinander zu vereinen, kann dazu betrieblich ein „Beschäftigtenkonto“ eingerichtet werden, dessen Steuerung in der Sphäre des Beschäftigten liegt, ergänzt um ein „Arbeitgeberkonto“, dessen Steuerung in der Sphäre des Arbeitgebers liegt. Selbstverständlich kann das Gleichgewicht der Interessen aber auch in nur einem Flexibilitätskonto geregelt werden.
Im Optionsmodell kann also die Verwendung von mindestens 50 Prozent der Stunden flexibel vom Beschäftigten bestimmt werden. Dies macht die Arbeit gerade von gewerblichen Beschäftigten, die bisher nicht in Gleitzeit tätig waren, attraktiver. Meiner Meinung nach kann dies vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ein Pfund im Werben gerade um gewerbliche Fachkräfte sein.
Zur Vermeidung der Über- und Unterschreitung sollen im neuen Modell Kontengrenzen in Form einer Ampelregelung vereinbart werden. Diese sind aber nicht tariflich vorgeschrieben. Der Tarif lässt den Betrieben also erfreulich große Freiheiten.
Es kann auch ein Ausgleichszeitraum vereinbart werden. Wenn dies geschieht, ist zu vereinbaren, ob ein individueller oder kollektiver Nulldurchlauf stattfinden soll. Ist am Ende eines solchen Ausgleichszeitraums die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit des oder der Beschäftigten über- bzw. unterschritten, so muss die Differenz durch Freistellung respektive Nacharbeit ausgeglichen werden.
Mehr Gestaltungsspielräume
Viele Firmen begrüßen nun, dass ein fester Ausgleichszeitraum aber nicht Bedingung für das neue Modell ist – der Durchschnitt von 35 Stunden pro Woche also insbesondere nicht mehr unbedingt nach einem Jahr eingehalten werden muss. Steffen Pohl, NORDMETALL-Vizepräsident und Geschäftsführer von Liebherr in Rostock: „Das Optionsmodell gibt neue tarifliche Möglichkeiten, einen Nulldurchlauf zu vermeiden. Dies ist bei uns im Betrieb wegen teilweise vier- bis siebenjähriger Konjunkturzyklen unbedingt nötig. Zeitarbeit ist zum Ausgleich keine ausreichende Alternative, hierfür ist der gesetzliche Rahmen zu eng.“
Auch in der Medizintechnik ist die Arbeitsmenge nicht in jedem Jahr gleich. Björn Lüdemann, HR Director Philips Medical Systems DMC GmbH in Hamburg: „Nach der Übernahme der Produktion von Röntgenröhren aus den USA war der Bedarf erheblich größer als üblich. Im Gegenzug gab es nun Zeiten, in denen Störungen in der Lieferkette zu Unterauslastung führten. Es ist nicht nur im Firmeninteresse, sondern auch im Interesse der Beschäftigten, dass dies über den bloßen Jahreszeitraum hinaus ausgeglichen werden kann.“
Mit der Neuregelung ist erfreulicherweise auch nicht vorgeschrieben, dass alle Stunden, die nach zwölf Monaten auf dem Konto verblieben sind, zwangsläufig als Mehrarbeit vergütet werden müssen.
Eine Auszahlung von Zeitguthaben kann nur für ein Zeitguthaben von bis zu 50 Stunden jährlich pro Beschäftigten erfolgen. Die Vergütung dieser zusätzlichen Arbeitszeit erfolgt dann aber ohne Mehrarbeitszuschläge.
Mit den Flexibilitätskonten betreten die Tarifvertragsparteien in Norddeutschland Neuland. Daher ist es ihnen wichtig, dass sie vor dem Abschluss einer entsprechenden freiwilligen Betriebsvereinbarung von den Betriebsparteien beratend hinzugezogen werden.
Bisher bedurfte es für derart vom Grundmodell abweichende Regelungen eines Ergänzungstarifvertrages mit der IG Metall. Insofern ist auch dies ein Fortschritt.
Insgesamt haben die Tarifvertragsparteien im Norden ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt und einen echten Fortschritt erzielt. Dafür gebührt allen, die dazu beigetragen haben, großer Dank.
Dr. Thomas Piehler, Vizepräsident von NORDMETALL für Hamburg.